Immer noch sind behinderte Menschen in Deutschland ausgrenzt. Die meisten von ihnen haben, unabhängig von ihrem Können, keine Chance auf einen regulären Arbeitsplatz. Sie arbeiten gegen geringfügiges Entgelt in beschützenden Werkstätten. Ursache ist die massive Ausgrenzung von Behinderten, die bereits in Kindergärten und Schulen beginnt. „Nur 15 bis 16 Prozent aller Behinderten werden integrativ beschult, das ist für ein so reiches und zivilisiertes Land wie die Bundesrepublik ein Skandal.“ Das machte Karin Evers-Meyer, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, auf einer Podiumsdiskussion deutlich. Allein der Begriff „integrativ“ sei selektierend. Es könne nicht darum gehen, aussortierte Kinder/Schüler zu integrieren, sondern alle behinderten Kinder hätten ein Recht darauf, umfassend gefördert zu werden. Daher müsse es ein inklusives Bildungssystem geben, das eine Ausgrenzung von vornherein verhindere.

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v.l.n.r. Hans-Dieter Keil-Süllow, Karin Evers-Meyer, Kerstin Tack, Klaus Dickneite, Sigrid Leuschner

„Dänemark und Kanada“, sagte die Behindertenbeauftragte, „machen es vor, dort werden rund 80 Prozent aller Behinderten inklusiv beschult.“ Die SPD-Landtagsabgeordnete Sigrid Leuschner hatte im Rahmen der Themenreihe "Eintrittskarte Zukunft" der SPD-Landtagsfraktion unter dem Titel „Gemeinsam macht stark: Kinder mit Behinderung inklusiv beschulen“ zu einer Podiumsdiskussion in die Aula der Fachhochschule Hannover eingeladen. Es diskutierten Karin Evers-Meyer, die Landtagsabgeordnete Sigrid Leuschner, Klaus Dickneite vom Verein für Körperbehinderte sowie Hans-Dieter Keil-Süllow, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Bildung. Die Moderation hatte Kerstin Tack, jugendpolitische Sprecherin der SPD-Ratsfraktion und Bundestagskandidatin im Wahlkreis Hannover-Nord.

Alle auf dem Podium waren sich alle einig, das es in Deutschland und insbesondere in Niedersachsen einen großen Nachholbedarf in der Behindertenpolitik gibt. „Kinder entwickeln sich, je stärker sie gefördert werden“, zeigte sich Sigrid Leuschner überzeugt und beklagte, dass die Landesregierung viele Lippenbekenntnisse mache, aber nur 4,56 Prozent der Kinder integrativ beschule. Diese Zahlen seien ein Skandal, zumal bekannt sei, dass viele Kinder auf Förderschulen geschickt würden, obgleich ihre Lernschwierigkeiten viel mit dem häuslichen Umfeld zu tun hätten. Kinder mit und ohne Behinderung könnten viel voneinander lernen. Das bewiesen die wenigen erfolgreichen Integrationsklassen an den niedersächsischen Schulen. Hans-Dieter Keil-Süllow kritisierte, dass das Schulsystem gegen Menschenrechte verstoße. Laut der UN-Menschenrechtskonvention, die Anfang des Jahres in Kraft getreten sei, gebe es eine Verpflichtung, behinderte Menschen an allen Bereichen der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Wie aber solle das möglich sein, wenn nur ein Bruchteil der behinderten Kinder eine Chance auf eine integrative Beschulung habe? Der Vater zweier Töchter betonte, dass seine Töchter vor 25 Jahren mit einem Kind mit Down-Syndrom in den Kinderladen Warstr gegangen sei. „Das hat alle, Kinder, Erzieher, Eltern vorangebracht.“ Keil-Süllow berichtete von den guten Erfahrungen mit Integrationsklassen in Grundschulen, mit dem Integrationskonzept für einen ganzen Stadtteil Herrenhausen-Stöcken und mit gemeinsamen Lernen in den Integrierten Gesamtschulen Hannovers: "Leider ist seit 10 Jahren kein neues Projekt mehr dazugekommen!".

„Kommunen müssen stärker in die Pflicht genommen werden“, ergänzte Klaus Dickneite und kritisierte, dass häufig die behindertengerechte Anpassung im Baurecht fehle. In der Regel sei der Gesellschaft eine integrative Beschulung nichts wert. Dabei würden schon zehn Prozent der Stützungsmaßnahmen, die der Staat den Banken zur Verfügung gestellt habe, reichen, um auf Jahre jedes Kind, egal ob behindert oder nicht, individuell zu fördern.

Hans-Dieter Keil-Süllow

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v.l.n.r. Sigrid Leuschner, Klaus Dickneite, Karin Evers-Meyer, Kerstin Tack, Hans-Dieter Keil-Süllow

Hans-Dieter Keil-Süllow: "Der tagtägliche Verstoß gegen die Menschenrechte - wir brauchen einen grundsätzlichen Umbau des Systems von Kinderkrippe, Kinderhort, Schule und beruflicher Bildung

Guten Abend, meine Damen und Herren,

der UN-Sonderberichterstatter Vernor Munoz hat sich die deutschen Schulen angesehen und hat festgestellt: Das deutsche Schulsystem verstößt gegen Menschenrechte. Systematisch werden Kinder aus Familien mit geringem Einkommen ausgegrenzt, behindert. Denn ein Prinzip gilt in Deutschland: Auf die Familie kommt es an, wenn es darum geht, dass Werte vermittelt werden, dass Kindern Anreize gegeben werden.

Die meisten Politiker haben kurz erstaunt aufgeschaut und sind dann zur Tagesordnung übergegangen.

Inzwischen fordert eine UN-"Convention ohn the Rights of Persons wirth Disabilities" die Integration, nein, die Inklusion aller Schülerinnen und Schüler in das allgemeine Schulwesen.

Die Bundesregierung hat die Convention unterschrieben.

Geändert hat sich wieder nichts: Tagtäglich verstößt die Bundesregierung und alle Landesregierung gegen diese Convention, verstößt sie gegen einen unterschrieben Vertrag, verstößt sie gegen Menschenrechte. Weil sie nichts tun, um den Weg zu einem Umbau des Schulsystems zu gehen!

Die niedersächsische Landesregierung setzt noch etwas drauf: Sie schafft den gemeinsamen Unterricht in Integrierten Gesamtschulen ganz bewußt ab und stülpt den Gesamtschulen die Verkürzung der Schulzeit zum Abi auf 12 Jahre über, eine verpfuschte Maßnahme, unter der tagtäglich die Gymnasiasten Niedersachsens leiden. Einziges Argument: Das Leiden muß gerecht verteilt werden.

Schule kann ganz anders sein.

Als junger Vater im Kinderladen Warstrasse habe ich miterlebt, wie ein ganzer Kinderladen mit Erzieherinnen, Eltern und Kinder sich verändern kann, wenn Kinder mit Behinderungen am tagtäglichen Leben teilnehmen. Weil sich alle auf die Kinder eingestellt haben. Auf ein Kind mit Down-Syndrom und ein Kind mit Mehrfachbehinderung. ... wie sich alle eingestellt haben und es ganz normal wurde, das diese Kinder dabei waren.

Als Schulelternratsvorsitzender einer Grundschule in der Nordstadt habe ich miterlebt, wie hoch der Andrang von Eltern und Kindern - ohne erkennbare Behinderungen - war, um in einer Integrationsklasse eingeschult zu werden.

Als Elternvertreter im Schulausschuss und Vorsitzender des Stadtelternrates habe ich miterlebt, wie das Grundschulsystems eines ganzen Stadtteils umgebaut wurde. Das Integrationskonzept Nordwest. Alle Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf gingen fortan auf die ganz normalen Grundschulen - und natürlich auch die Lehrerinnen und Lehrer der Förderschulen. Die Förderschulen bestanden nur noch aus der Sek I - und dort bestanden nun plötzlich Schüler mit Förderbedarf den Hauptschulabschluss.

Aber in Hannover ging es noch weiter. Aus den Kindergärten und Kinderläden Lindens gingen alle Schüler - auch die mit Behinderungen - in Integrationsklassen der Grundschule Am Lindener Markt. Und dann gemeinsam in Integrationsklassen in der IGS Linden. Und die Lehrerinnen und Lehrer der Förderschulen gingen mit. Und ich habe als Vater zweier Schülerinnen ohne erkennbare Behinderung miterlebt, wie eine ganze Schule sich änderte. Wie sich die Pädagogik änderte. Zu den guten Ansätzen eigenverantwortlichen Lernens mit Wochenplanunterricht und Freiarbeit kamen neue Ansätze von individueller Förderung, individueller Förderdiagnostik, individuellen Förderplänen.

Inklusive Schule tut allen gut.

"Integration überwindet nicht die Grenzen zwischen zwei Gruppen, sie manifestiert sie. Grenzen lassen sich nur mit einer inklusiven Bildungslandschaft überwinden", stellt der UN-Sonderberichterstatter fest.

Daher fordere ich einen grundsätzlichen Umbau des Systems von Kinderkrippe, Kinderhort, Schule und beruflicher Bildung.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

Hans-Dieter Keil-Süllow