In der Sondersitzung, die der Niedersächsische Landtag zum Thema Flüchtlingspolitik am 10. September abhielt, plädierte Doris Schröder-Köpf für mehr Solidarität unter den europäischen Staaten. Dies sei auch notwendig, um die Hilfsbereitschaft der vielen Bürgerinnen und Bürger in unserem Land langfristig aufrechterhalten zu können.

Rede der niedersächsischen Landtagsabgeordneten, Doris Schröder-Köpf, Sondersitzung Nds. Landtag, Aktuelle Stunde, „Europa braucht eine solidarische Flüchtlingspolitik“ (Punkt 3.c), Hannover, 10.09.2015

- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Solidarität“ ist in diesen Tagen ein häufig verwendetes Wort. Allgemein bezeichnet es das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der gegenseitigen Verantwortung und Verpflichtung. Am vergangenen Wochenende haben Tausende von Bürgerinnen und Bürgern von München bis Braunschweig eindrucksvoll deutlich gemacht, was sie darunter verstehen. Sie haben den Zehntausenden, die über Ungarn aus Kriegs- und Krisengebieten geflohen sind, gezeigt, dass Flüchtlinge in unserem Land auf offene Arme und auf mitfühlende Herzen treffen. Auch der Ministerpräsident hat mit seiner Begrüßung der Flüchtlinge am Braunschweiger Bahnhof ein Zeichen gesetzt. Niedersachsen, dessen Bevölkerung zu so großen Teile aus Nachfahren von Flüchtlingen besteht, hat seine Wurzeln nicht vergessen.

Dem Herrn Ministerpräsidenten möchte ich an dieser Stelle mitgeben: Diese Willkommensbotschaft ist nicht nur bei den Flüchtlingen gut angekommen. Vielen Dank dafür!

Sehr geehrte Damen und Herren, wir alle können uns derzeit an unserem Land erfreuen, an diesem goldenen Herbst der Hilfsbereitschaft. Und doch muss man auch in diesen Tagen sagen: Die Bundespolitik der vergangenen Jahre war eben nicht solidarisch, sondern - ich zitiere aus Spiegel-Online vom 7. September - „im Kern egoistisch“.

Norbert Spinrath, europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, hat in einer Stellungnahme gestern konstatiert, jetzt werde endlich die „Heuchelei einer Reihe von EU-Mitgliedstaaten“ beendet, „das gegenwärtige Europäische Asylsystem hätte etwas mit Solidarität, Fairness oder Gerechtigkeit zu tun. Das Dublin-System ist gescheitert.“ Dem dürften die allermeisten Mitglieder dieses Hauses zustimmen: Dublin ist gescheitert und gehört abgeschafft!

Aber es bedarf einer Nachfolgeregelung. Alle EU-Mitgliedstaaten müssen sich entsprechend ihren Möglichkeiten an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen. Alle EU-Mitgliedstaaten müssen ihren Verpflichtungen nachkommen, die sie durch Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention übernommen haben und die sich aus der EU-Grundrechtecharta ergeben.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, EU-Kommissionspräsident Juncker hat gestern in einer beeindruckend klaren Rede vor dem Europäischen Parlament daran erinnert, dass Europa ein Kontinent ist, auf dem im Laufe der Geschichte fast jeder einmal Flüchtling war, und darauf hingewiesen, dass in Europa Flüchtlinge nach jetzigem Stand nur 0,11 % der Gesamtbevölkerung ausmachen - im Gegensatz zu anderen Ländern.

Er hat vorgeschlagen, die Notfallumverteilung von 160.000 Flüchtlingen auf einer außerordentlichen Tagung des Rats der Innenminister anzunehmen, um Italien, Griechenland und Ungarn zu helfen und um die Einführung eines permanenten Umverteilungsmechanismus einzuführen, also einer Verteilquote.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen mehr: Wir brauchen Aufnahmequoten, humanitäre Aufnahmeprogramme, Resettlement. Der Sprecher des UNHCR, des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, in Deutschland, Stefan Telöken, drückt es so aus: „Wir brauchen Zugbrücken zur Festung Europa.“ Pro Asyl fordert die Bundesregierung auf, das auf 20 000 Menschen begrenzte humanitäre Aufnahmeprogramm wiederzubeleben.

Die EU-Staaten, die mithilfe von Resettlement-Programmen die Menschen aus den großen Flüchtlingslagern holen und ihnen damit lebensgefährliche Fluchtwege über europäische Meere ersparen, sollten Gelder aus dem EU-Haushalt erhalten. Darüber hinaus muss es sichere Fluchtkorridore geben, legale Einreisemöglichkeiten, wie sie Vizekanzler Sigmar Gabriel bereits vorgeschlagen hat, natürlich auch humanitäre Visa.

Diese Maßnahmen würden wohl nicht dazu führen, dass die Zahl der Aufzunehmenden steigt, wohl aber würden sie sicher dazu beitragen, dass die Zahl der Todesopfer abnimmt. Das sollten alle wissen, die beim Anblick des kleinen Aylan Tränen vergossen haben.

Erforderlich ist ebenso schnell eine Änderung der EU-Richtlinie 2001/51/EG, die es Fluggesellschaften bisher praktisch unmöglich macht, Asylsuchende zu transportieren.

Sehr geehrte Damen und Herren, Europa braucht eine solidarische Flüchtlingspolitik auch, um die Solidarität und Hilfsbereitschaft unserer Bürgerinnen und Bürger auf Dauer - die Spendenbereitschaft ist unglaublich groß - und das ehrenamtliche Engagement, zu dessen Unterstützung wir im Übrigen im Nachtragshaushalt auch finanzielle Mittel bereitstellen, zu erhalten.

Niedersachsen hat am vergangenen Wochenende in einem Kraftakt mehr Flüchtlinge aus Ungarn aufgenommen als fast alle anderen Bundesländer. Herr Innenminister, Ihnen und Ihrem Team herzlichen Dank für Ihre Anstrengungen!

Sehr geehrte Damen und Herren, das Bundesland Niedersachsen ist nicht die politische Ebene, auf der Europapolitik verantwortet oder Weltpolitik gemacht wird. Aber wir stellen uns unserer Verantwortung in Europa. Dazu möchte ich den kürzlich verstorbenen Egon Bahr zitieren: Du musst die Welt so nehmen, wie sie ist, aber du darfst sie nicht so lassen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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